Subjektiv hinterm Objektiv
Artikel aus der STUTTGARTER ZEITUNG vom 06.04.2009
Vor den monoton in den Himmel strebenden
Hochhausfassaden des World Trade Centers duckt sich ein altes Haus mit
einer Glocke und einem Kreuz auf dem Dachgiebel. Scheinbar verlassen
kümmert die griechisch-orthodoxe Kirche des heiligen Nikolaus im
Schatten der modernen Kathedrale des Geldes und des Welthandels vor
sich hin. So hat der Stuttgarter Fotograf Hannes Kilian das World Trade
Center 1977 ins Bild gesetzt. Am 11. September 2001, zwei Jahre nach
Kilians Tod, brachten Selbstmordattentäter die Twin Towers zum
Einsturz. Der Fotograf hat wohl die Hybris gespürt, die das Bauwerk zur
Zielscheibe machte.
Noch prophetischer wirkt ein 1971 aufgenommenes Farbfoto. Vor der New Yorker Skyline, aus der die noch unfertigen Twin Towers herauswachsen, bilden die verwitterten Holzpfähle eines Stegs eine zweite, düstere Silhouette. Sie erinnert an die berühmten Fotos, die Kilian vom zerbombten Stuttgart machte, aber auch an seine Aufnahmen antiker Ruinenstädte. Kilian fotografierte mit doppeltem Blick: Das amerikanische Symbol für wirtschaftliche Macht komponierte er schon mit dem Fingerzeig auf das bittere Ende zusammen.
Ein drittes Foto zeigt vor dem World Trade Center die Stuttgarter Ballerina Birgit Keil. Auf dem Mittelstreifen einer New Yorker Straße streckt sie sich zum Himmel. Was bringt die Menschheit weiter, babylonische Turmbauten aus Stahl oder vielleicht doch der Tanz? In der Berliner Retrospektive im Martin-Gropius-Bau und im opulenten Katalog kann man dem Fotografen Hannes Kilian beim Nachdenken zuschauen.
Bisher gründete sich Kilians Nachruhm vor allem auf seinen hinreißenden Fotos vom Stuttgarter Ballett, die in der Ära Cranko um die Welt gingen. Doch nicht erst in den Sechzigern und Siebzigern zeigt sein Werk eine geniale Begabung, Bewegung in fotografische Momentaufnahmen zu übersetzen. Den Katalogeinband schmückt ein traumschönes Tanzbild aus den Dreißigern: Über einer Blumenwiese schweben zwei Mädchen im Sprung, während eine dritte im Überschlag auf den Händen balanciert. Alle drei sind in dem glücklichen Augenblick verewigt, da die Schwerkraft aufgehoben scheint. Die formale Perfektion dieses Fotos nimmt man erst auf den zweiten Blick wahr, so ansteckend wirkt seine unbeschwerte Lebensfreude.
1938, im Jahr der Aufnahme, drückte es eine Sehnsucht, aber sicher nicht die Befindlichkeit des jungen Fotografen aus. Widerstrebend kehrte er damals aus dem selbst gewählten Exil ins nationalsozialistische Deutschland zurück. 1909 in Ludwigshafen am Bodensee geboren, hatte er 1931 eine Fotoausbildung in der Schweiz abgeschlossen. Noch lieber wäre Kilian Kameramann oder Pilot geworden, aber dafür fehlte das Geld. Er arbeitete bei einer Fotofirma in Luzern und für ein Fotoatelier in Neapel, war 1937 während der Pariser Weltausstellung Reiseleiter und Kameraassistent in Paris, bis ihm die Arbeitserlaubnis entzogen wurde.
Aus den frühen Wanderjahren stammen Fotos vom rauchenden Vesuv und aus Pompeji, vom nächtlichen Paris im Glanz der Lichtreklamen und von seinen Marktfrauen. Im Exil entwickelte Kilian sein besonderes Gespür für Licht und Schatten, für Stillstand und Bewegung. Die eigene Handschrift entwickelte sich weniger aus einem Stilwillen als aus der Haltung zu seinem Metier. Kilian war ein mitfühlender Fotograf. Seine Motive involvieren den Betrachter, ohne ihn überwältigen oder belehren zu wollen.
Im Zweiten Weltkrieg wurde der empfindsame Flaneur mit der Kamera als Propagandafotograf dienstverpflichtet, an die Ostfront geschickt und dort verwundet. Leider bleibt dieser Lebensabschnitt in der Ausstellung und im Katalog unterbelichtet: Es wäre vertretbar gewesen, auch ein paar schwächere oder direkt für Propagandazwecke missbrauchte Aufnahmen zu zeigen. Die erschütternden Fotos vom 1944 zerbombten Stuttgart entstanden heimlich und ohne Auftrag. Sie klagen nicht an und sie entschuldigen nichts. Kilian faszinierten die Menschen, die einfach weiterzumachen versuchten. Sie verstauten ihre Toten in Särgen, sammelten sich um einen Mittagstisch zwischen Ruinen, führten auf provisorischen Trümmerpfaden elegant gekleidet ihr Hündchen spazieren.
Genauso unbestechlich begleitete er als Fotoreporter die Deutschen durch die folgenden Nachkriegs- und Wirtschaftswunderjahre. Kilian fotografierte die müden Gesichter alter Leute, die durch die Währungsreform ihr Erspartes verloren, oder spielende Kinder an der Berliner Mauer - immer einer Wirklichkeit auf der Spur, die in der lauten Propaganda nicht vorgesehen war. Bereits 1960 hielte er im Stuttgarter Autoverkehr einen einsamen Passanten fest, der suchend in Richtung des Fotografen schaut. Bildtitel: "Der letzte Fußgänger".
500 000 Fotos hinterließ er seiner Witwe Gundel Kilian, ein noch weitgehend ungehobener Schatz. Nur ein Teil wurde in Illustrierten, Zeitungen, Büchern veröffentlicht. Der Fotohistoriker Klaus Honnef hat sich durch das Archiv gegraben und gut 300 Bilder ausgesucht, die Kilians Handschrift und Vielseitigkeit zeigen. Für Berlin ist die Schau im repräsentativen Martin-Gropius-Bau eine Entdeckung. In Stuttgart hat es schon öfter Kilian-Ausstellungen gegeben, aber noch nie eine so umfassende Präsentation. Im Frühjahr 2010 soll die Berliner Auswahl im Kunstgebäude zu sehen sein - wenn das undurchsichtige Gerangel in den Kulissen des hiesigen Kulturbetriebs doch noch zu einem guten Ende kommt. Die Witwe Gundel Kilian spricht von einer festen Zusage des Landes, auch in puncto Mitfinanzierung durch die Landesbank. Dagegen bestreitet der Württembergische Kunstverein, Hauptnutzer des Kunstgebäudes, je eine Zusage für eine Ausrichtung der Ausstellung gegeben zu haben. Also muss jetzt wohl schleunigst ein anderer Kulturveranstalter gefunden werden. Nach der ansprechenden Berliner Präsentation müssten sich die Stuttgarter Kulturinstitutionen eigentlich um die Ausstellung reißen.
"Hannes Kilian - Fotografien"; Martin-Gropius-Bau, bis 29. Juni; täglich 10-20 Uhr; Katalog (Hatje Cantz): 39,80 Euro.
Noch prophetischer wirkt ein 1971 aufgenommenes Farbfoto. Vor der New Yorker Skyline, aus der die noch unfertigen Twin Towers herauswachsen, bilden die verwitterten Holzpfähle eines Stegs eine zweite, düstere Silhouette. Sie erinnert an die berühmten Fotos, die Kilian vom zerbombten Stuttgart machte, aber auch an seine Aufnahmen antiker Ruinenstädte. Kilian fotografierte mit doppeltem Blick: Das amerikanische Symbol für wirtschaftliche Macht komponierte er schon mit dem Fingerzeig auf das bittere Ende zusammen.
Ein drittes Foto zeigt vor dem World Trade Center die Stuttgarter Ballerina Birgit Keil. Auf dem Mittelstreifen einer New Yorker Straße streckt sie sich zum Himmel. Was bringt die Menschheit weiter, babylonische Turmbauten aus Stahl oder vielleicht doch der Tanz? In der Berliner Retrospektive im Martin-Gropius-Bau und im opulenten Katalog kann man dem Fotografen Hannes Kilian beim Nachdenken zuschauen.
Bisher gründete sich Kilians Nachruhm vor allem auf seinen hinreißenden Fotos vom Stuttgarter Ballett, die in der Ära Cranko um die Welt gingen. Doch nicht erst in den Sechzigern und Siebzigern zeigt sein Werk eine geniale Begabung, Bewegung in fotografische Momentaufnahmen zu übersetzen. Den Katalogeinband schmückt ein traumschönes Tanzbild aus den Dreißigern: Über einer Blumenwiese schweben zwei Mädchen im Sprung, während eine dritte im Überschlag auf den Händen balanciert. Alle drei sind in dem glücklichen Augenblick verewigt, da die Schwerkraft aufgehoben scheint. Die formale Perfektion dieses Fotos nimmt man erst auf den zweiten Blick wahr, so ansteckend wirkt seine unbeschwerte Lebensfreude.
1938, im Jahr der Aufnahme, drückte es eine Sehnsucht, aber sicher nicht die Befindlichkeit des jungen Fotografen aus. Widerstrebend kehrte er damals aus dem selbst gewählten Exil ins nationalsozialistische Deutschland zurück. 1909 in Ludwigshafen am Bodensee geboren, hatte er 1931 eine Fotoausbildung in der Schweiz abgeschlossen. Noch lieber wäre Kilian Kameramann oder Pilot geworden, aber dafür fehlte das Geld. Er arbeitete bei einer Fotofirma in Luzern und für ein Fotoatelier in Neapel, war 1937 während der Pariser Weltausstellung Reiseleiter und Kameraassistent in Paris, bis ihm die Arbeitserlaubnis entzogen wurde.
Aus den frühen Wanderjahren stammen Fotos vom rauchenden Vesuv und aus Pompeji, vom nächtlichen Paris im Glanz der Lichtreklamen und von seinen Marktfrauen. Im Exil entwickelte Kilian sein besonderes Gespür für Licht und Schatten, für Stillstand und Bewegung. Die eigene Handschrift entwickelte sich weniger aus einem Stilwillen als aus der Haltung zu seinem Metier. Kilian war ein mitfühlender Fotograf. Seine Motive involvieren den Betrachter, ohne ihn überwältigen oder belehren zu wollen.
Im Zweiten Weltkrieg wurde der empfindsame Flaneur mit der Kamera als Propagandafotograf dienstverpflichtet, an die Ostfront geschickt und dort verwundet. Leider bleibt dieser Lebensabschnitt in der Ausstellung und im Katalog unterbelichtet: Es wäre vertretbar gewesen, auch ein paar schwächere oder direkt für Propagandazwecke missbrauchte Aufnahmen zu zeigen. Die erschütternden Fotos vom 1944 zerbombten Stuttgart entstanden heimlich und ohne Auftrag. Sie klagen nicht an und sie entschuldigen nichts. Kilian faszinierten die Menschen, die einfach weiterzumachen versuchten. Sie verstauten ihre Toten in Särgen, sammelten sich um einen Mittagstisch zwischen Ruinen, führten auf provisorischen Trümmerpfaden elegant gekleidet ihr Hündchen spazieren.
Genauso unbestechlich begleitete er als Fotoreporter die Deutschen durch die folgenden Nachkriegs- und Wirtschaftswunderjahre. Kilian fotografierte die müden Gesichter alter Leute, die durch die Währungsreform ihr Erspartes verloren, oder spielende Kinder an der Berliner Mauer - immer einer Wirklichkeit auf der Spur, die in der lauten Propaganda nicht vorgesehen war. Bereits 1960 hielte er im Stuttgarter Autoverkehr einen einsamen Passanten fest, der suchend in Richtung des Fotografen schaut. Bildtitel: "Der letzte Fußgänger".
500 000 Fotos hinterließ er seiner Witwe Gundel Kilian, ein noch weitgehend ungehobener Schatz. Nur ein Teil wurde in Illustrierten, Zeitungen, Büchern veröffentlicht. Der Fotohistoriker Klaus Honnef hat sich durch das Archiv gegraben und gut 300 Bilder ausgesucht, die Kilians Handschrift und Vielseitigkeit zeigen. Für Berlin ist die Schau im repräsentativen Martin-Gropius-Bau eine Entdeckung. In Stuttgart hat es schon öfter Kilian-Ausstellungen gegeben, aber noch nie eine so umfassende Präsentation. Im Frühjahr 2010 soll die Berliner Auswahl im Kunstgebäude zu sehen sein - wenn das undurchsichtige Gerangel in den Kulissen des hiesigen Kulturbetriebs doch noch zu einem guten Ende kommt. Die Witwe Gundel Kilian spricht von einer festen Zusage des Landes, auch in puncto Mitfinanzierung durch die Landesbank. Dagegen bestreitet der Württembergische Kunstverein, Hauptnutzer des Kunstgebäudes, je eine Zusage für eine Ausrichtung der Ausstellung gegeben zu haben. Also muss jetzt wohl schleunigst ein anderer Kulturveranstalter gefunden werden. Nach der ansprechenden Berliner Präsentation müssten sich die Stuttgarter Kulturinstitutionen eigentlich um die Ausstellung reißen.
"Hannes Kilian - Fotografien"; Martin-Gropius-Bau, bis 29. Juni; täglich 10-20 Uhr; Katalog (Hatje Cantz): 39,80 Euro.
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